Warum fragen wir nicht?
Gespräch mit Michal Sedláček zu »Körperwelten«
Das neue Ballett »Körperwelten« wird ja ein Handlungsballett. Kannst du uns schon etwas zur Handlung verraten?
Die Handlung entwickelt sich so, dass wir ein Ehepaar haben. Die Frau ist eine sehr gute Fotografin, kann eine große Karriere machen. Sie hat niemals den Wunsch gehabt, Kinder zu haben. Ihr Mann, ein bildender Künstler, will hingegen unbedingt ein Kind. Sie lässt es zu, wird schwanger, kriegt ein Kind und dann erwischt sie ihren Mann, der sie mit einer anderen Frau betrügt. In dem Moment weiß sie, dass ihre Karriere im Eimer ist. Mit dem Kind wiederum kann sie nichts anfangen. Damit wollte sie nur etwas Gutes für ihren Mann tun. Sie kommt mit sich selbst nicht klar und schmeißt das Kind ins Wasser. Der Vater schämt sich dafür, was er getan hat. Er hat einen taubstummen Assistenten, der das Kind rettet. Das Kind heißt übrigens Julia. Und diese Julia hat später das Problem, dass sie niemals gelernt hat, mit Gefühlen umzugehen. Sie kennt diese Wärme nicht. Sie ist beim Vater aufgewachsen und hat, wie in vielen Familien, niemals nachgefragt, wo ihre Mutter ist. Bestimmte Themen sind in Familien einfach tabu. Damit lebt sie so lange, bis der Vater stirbt. Da merkt sie, sie hat ein Problem. Das ist das, worum es mir geht: Warum niemand zuschaut, niemand zuhört, wenn jemand ein Problem hat. Wir sind alle sehr fixiert auf uns selbst. Das ist auch normal. Wir sind auch Egoisten. Aber wir achten nicht auf die kleinen Sachen. Niemand hat das Mädchen in ihrem Leben bis sie 30 war gefragt: Wo ist deine Mama? Nein, das hat niemanden interessiert. Wichtig war, dass sie eine gute Assistentin für den Vater war, dass sie seine Werke fotografiert und ihr eigenes Zeug gemacht hat. Wie sich das ausgeht, erzähle ich nicht. Aber es wird ein absolutes Kunstwerk gemacht.
Wie bist du auf die Idee dazu gekommen?
Ich habe mir die Geschichte ausgedacht in Zusammenarbeit mit Psychologinnen und Psychologen, Psychiatern und Rechtsmedizinern. Wir haben miteinander darüber gesprochen, was passieren kann, wenn man nicht aufeinander aufpasst. Wenn man nicht aufpasst auf die Menschen, die mit uns leben, die sich einfach anders verhalten als wir. Wie wir als Gesellschaft reagieren oder eben nicht reagieren. Ich habe so ein Erlebnis gehabt, als ich vor einem Jahr im Februar mein Auto in die Werkstatt gebracht habe. Als ich mit dem Fahrrad zurückgefahren bin, ist eine junge Frau vor die Straßenbahn getreten und hat sich überfahren lassen. Und ich habe mir die Frage gestellt: Wie kann sowas passieren? Dass im Februar bei minus neun Grad eine Frau barfuß mit kurzem T-Shirt einfach auf der Straße rumläuft und keiner fragt wie es ihr geht, ob sie ein Problem hat. Der nächste Schock für mich war, dass niemand versucht hat, die Frau unter der Straßenbahn rauszukriegen. Die Autos haben gehupt und wollten vorbeifahren. Wie sind wir als Menschen? Warum passieren solche Sachen? Achten wir aufeinander? Warum fragen wir nicht?
Und wie habt ihr es geschafft, diese Themen auch mit in die Musik hinein zu bringen?
Was die Musik betrifft habe ich mich entschlossen, Maria Callas Arien zu nehmen – die berühmtesten Arien, die sie gesungen hat, die auch textlich zu den Szenen passen. Die wird Kammersängerin Romelia Lichtenstein in der Rolle der Mutter spielen. Das freut mich sehr, denn sie ist so eine Art Maria Callas aus Halle, finde ich. Sie hat eine großartige Stimme. Sie ist eine Granate. Es gibt auch Musik von Samuel Barber. Von ihm habe ich mir zwei Symphonien ausgesucht. Und Ivo Nitschke, der für uns schon Groovin‘ Bodies und Art*House komponiert hat, hat auch diesmal Musik komponiert. Das sind circa 45 bis 50 Minuten und es ist wieder eine ganz andere Art Musik als das, was er bis jetzt gemacht hat. Es ist eine Art von Filmmusik für die ganze Staatskapelle. Das war eine ganz neue und schöne Erfahrung. Ich arbeite mit Ivo sehr gerne und ich glaube, da hat er etwas wirklich Großartiges geschafft.
Was wird man denn auf der Bühne sehen können?
Wir werden auf der Bühne viel mit Aquarien arbeiten. Wir werden mit Videoprojektionen arbeiten. Wir haben einen großartigen Kollegen hier in der Werkstatt, der hat uns einen sechs Meter langen Hai gebaut, der für mich sehr wichtig ist. Das ist der König der Meere für mich. Ein Hai hat etwas Gefährliches und wenn man ihn fängt, ist das für das Tier beinahe eine Beleidigung, würde ich sagen. Bis dahin war er unter Wasser einer der Stärksten – wie ein Löwe. Plötzlich nimmt ihn jemand legt ihn in Formaldehyd, damit er für immer ausgestellt wird. Man macht aus ihm ein Kunstwerk. Unsere Protagonistin Julia hat eine Idee im Kopf, wie man so etwas mit Menschen macht, ohne sie zu töten: Die Ästhetik von einem Körper unter Wasser. Ein Rechtsmediziner, mit dem ich mich unterhalten habe, hat mir erzählt, dass natürliches Ertrinken kein schöner Tod ist aber die Menschen sehen danach friedlich aus. Das ist was anderes als wenn man einen Menschen erdrosselt oder erschlägt. Der Tod hat eine eigene Ästhetik und gehört zum Leben. Wir werden mit einer schönen Ästhetik arbeiten, was das betrifft: Keine ekligen Leichen, sondern menschliche Körper. Mit denen werden wir arbeiten, ja. Im schlimmsten Fall wird das ein ästhetisch schöner Abend. Aber vielleicht findet jeder in sich selbst etwas darin, was mit ihm zu tun hat. Was man schon erlebt hat, was man schon verdrängt hat. Vielleicht wird man berührt. Das würde mich sehr freuen.
Vielen Dank für deine Zeit und das Gespräch.